Jan-Hendrik Kamlage ist promovierter Politikwissenschaftler, wissenschaftlicher Geschäftsführer des Centrums für Umweltmanagement, Ressourcen und Energie (CURE) und Leiter der Forschungsgruppe Partizipation & Transformation an der Ruhr-Universität Bochum. Seine Forschungsgebiete sind die Demokratie-, Beteiligungs- und Akzeptanzforschung sowie die Analyse der Bedingungen der sozial-ökologischen Transformation in zentralen Transformationsdomänen wie der Mobilitäts- und Energiewende. Er ist Experte für die Konzeption, Umsetzung und Evaluation von komplexen dialogorientierten Beteiligungsverfahren und verfügt über langjährige Expertise in der transformativen Forschung. Persönlich kennenlernen durften wir ihn auf dem DVWG-Summit 2024 in Wuppertal.
Was war Ihr persönlicher „Aha-Moment“ in Ihrer beruflichen Laufbahn in der Mobilitätsbranche?
Die urbane Mobilitätswende ist bekanntlich eine Gemeinschaftsaufgabe, die viel Zeit und die Kraft unterschiedlicher Gruppen in der Stadtgesellschaft beansprucht. Menschen mit vielfältigen Perspektiven, Ressourcen und Wissenshintergründen bringen sich ein und gestalten den Wandel aktiv mit. Das Mitmachen dieser Gruppen hängt dabei von der Stadtpolitik und Verwaltung ab. Sie stellen einen langfristigen Koordinations- und Handlungsrahmen für das Engagement bereit. Dazu gehören: Visionen und Ziele kollaborativ zu entwickeln, Ressourcen bereitzustellen und inklusive Beteiligungsangebote zum Umbau des Stadtraums zu ermöglichen und Freiraum für Entfaltung zu bieten. In diesem Zusammenhang denke ich immer wieder an ein Treffen mit Vertreter:innen einer Stadtverwaltung im Ruhrgebiet zurück. Es ging um den radverkehrsfreundlichen Umbau der Innenstadt. Doch bereits im ersten Treffen, einer Begehung des Stadtraums, wurde klar, dass sie Veränderungen skeptisch gegenüberstanden und eher Gründe dagegen vorbrachten als zu überlegen, wie es gehen könnte. Erlebnisse wie diese machen deutlich: Kollaborative Transformationsvorhaben und die Potenziale von Bürgerbeteiligung sind ganz direkt auf eine fördernde Kultur und den Willen, Gestaltungsmacht zu teilen, angewiesen. Hier braucht es mutige Menschen in Politik und Verwaltung, die ihre Gestaltungsmöglichkeiten kreativ nutzen, mit Engagement vorangehen und Beteiligung als Chance für Wandel betrachten.
Welches Mobilitätsprojekt oder welche Innovation der letzten Jahre beeindruckt Sie besonders?
Aus meiner Sicht sind Einzelinnovationen nicht entscheidend bei der Transformation. Es geht doch vielmehr um Legitimation und Akzeptanz in Politik, Verwaltung und Gesellschaft, um das System Stadt zu transformieren. Mich beeindrucken daher Kommunen, die über viele Jahre und Jahrzehnte den Wandel mit klaren Zielen und langem Atem gestalten. Stadtpolitik, Verwaltung und Zivilgesellschaft über viele Jahre auf Kurs zuhalten und über die Politik der kleinen Schritte den systemischen Wandel mutig voranzutreiben ist der Erfolgsfaktor schlecht hin. Städte wie Freiburg, Münster, Karlsruhe oder Bremen zeigen wie es geht. Diese Städte blicken auf eine Transformationsgeschichte von teilweise über 20 Jahren zurück, die die Mobilitätskultur in den Räumen gedreht hat. Man kann dort Veränderungen beobachten, die mitunter im Kleinen begonnen und konsequent langfristig weitergeführt wurden. Die Folge: ausgebauter ÖPNV und Radwegenetze, etablierte Car-Sharing-Angebote, reduzierte Parkplätze und mehr öffentliche Gemeinschaftsräume sowie Autos, die aus dem öffentlichen Raum der Innenstädte verdrängt werden. Entwicklungen wie diese verdeutlichen, wie Transformationen funktionieren: Sie sind kleinteilig, langatmig und nicht von jetzt auf gleich zu haben.
Wenn Sie Ihre Heimatstadt von Grund auf neu planen könnten – wie sähe das Verkehrssystem aus?
Ich glaube nicht an Masterpläne. Ich würde eine vom Mittelalter geprägte Stadt wie meine Heimatstadt Bremen nicht von Grund auf neu planen wollen. Es geht doch vielmehr darum, die Einzigartigkeit von historisch entwickelten Städten zu respektieren und daraus Veränderungen und Wandel abzuleiten, der zu den aktuellen Herausforderungen passt. Für eine Stadt wie Bremen kann dies bedeuten, dass man historisch bekannte Leitbilder wie eine „Stadt der kurzen Wege“ und eine Innenstadt, die auch von Menschen wieder stärker bewohnt wird, anschließt. Was ich Bremen wünschen würde: Dass sie die Stärke der Bürgerschaft und organisierten Zivilgesellschaft besser in eine verfasste Beteiligungsgovernance überführen würden, um genau diesen Wandel auf vielen Schultern zu verteilen. Bausteine einer solchen Struktur wären eine zentrale und informative Bürger:innenplattform, um alle Bürgerinnen und Bürger über Initiativen und Planungen besser zu informieren und auch daran zu beteiligen, Leitlinien für gute Beteiligung und deren Durchsetzung zu entwickeln, eine gut ausgestattet Koordinierungsstelle, um das Bürgerengagement zu implementieren und dauerhafte lokale Beteiligungsformate wie Bürger:innenräte in den Stadtteilen anzuwenden. Eine Struktur aus einem Guss macht Beteiligung für alle berechenbar und transparent, macht direkte Demokratie erlebbar, verhindert politische Willkür und Instrumentalisierung und beschleunigt den Wandel.